Unser Mauerweglauf 2017 – Ein Nicht Nur Historisches Grenzerlebnis
Ein 100-Meilen-Ultra in der Stadt, ohne nennenswerte Höhenmeter, hauptsächlich über Asphalt. Das klingt für den/die passionierte(n) Ultraläufer*in erst einmal nicht besonders attraktiv. Doch der Mauerweglauf oder, wie er auch genannt wird, die 100 Meilen von Berlin, sind viel mehr als nur ein flacher Stadtultralauf. Sie enthalten so viel Geschichte, erinnern an Schicksale, symbolisieren wichtige Werte in unserer Gesellschaft. Das Gefühl von unüberwindbaren Grenzen. Sowohl historisch, als auch sportlich. Bei keinem anderen Ultralauf, den wir kennen, wird das Bestreben nach der Überwindung von Grenzen so sehr vereinigt im Ultralauf und der Geschichte dieser Wettkampfstrecke.
Am vergangenen Wochenende war das Team null8null8 zum zweiten Mal nach 2016 beim Mauerweglauf am Start. Während im vergangenen Jahr Carsten in einer 4er Staffel die 37km Distanz lief und Hannah ihn mit dem Rad begleitete, waren wir diesmal beide als Läufer*in unterwegs, zusammen mit Gerda und Heiko in der 4er Staffel. Gut 160 Kilometer galt es zu absolvieren, aufgeteilt auf 4 Streckenabschnitte. Gerda 34km, Carsten 37km, Heiko 32km, Hannah 59km. Gelaufen wird auf dem Mauerweg in Berlin. D.h. genau da, wo bis November 1989 eine Mauer Westberlin vom Osten Deutschlands trennte.
Start: Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark am Mauerpark
[Der folgende Teil wurde von Staffelläuferin Gerda geschrieben]
Ich durfte dieses Jahr als Startläuferin antreten. Heiko und Carsten haben am Jahn Sportpark mit mir auf den Startschuss gewartet. Hugo kam auch noch hinzu, da er mich auf meinen Streckenabschnitt begleiten wollte. In den Startbereich musste ich aber alleine und ich merkte, dass ich doch ziemlich aufgeregt war. Ich stellte mir schon seit Tagen die Frage, ob ich das überhaupt schaffe … (an dieser Stelle wird der eine oder die andere die Augen verdrehen). Um 7 Uhr ging es los. Ich lief natürlich viel zu schnell los und musste mich etwas zurücknehmen, was aber gut klappte. Im letzten Jahr habe ich mich über die Sonne beklagt und dieses Jahr regnete es. Es regnete fast durchgängig, aber durch Hugos Begleitung waren die 34 km sehr kurzweilig. Bei km 10 haben wir zum Gedenken an Dorit Schmiel, die dort bei einem Fluchtversuch ums Leben kam, eine Rose niedergelegt – ein sehr emotionaler Augenblick und Gänsehaut pur.
Auf den letzten Kilometern haben Hugo und ich dann doch den Regen verflucht und uns auf das Etappenziel gefreut. In Hennigsdorf habe ich dann pitschnass an Carsten übergeben und war glücklich, es geschafft zu haben.
WP1: Ruderclub Henningsdorf
[Der folgende Teil wurde von Carsten geschrieben]
Beim Warten auf Gerda zeigte sich das Wetter nochmal von seiner schlechtesten Seite. Durch den Wind kam der Nieselregen plötzlich waagerecht daher. Ich verzog mich immer weiter unter das Vordach vom Verpflegungspunkt, während Heiko nach Gerda Ausschau hielt. Zwischendurch hatten bereits Ulf und Janina, die jeweils in einer 2er-Staffel unterwegs waren, den Wechselpunkt passiert. Dazu noch ein kurzer Plausch mit Miele und Olli von den Flitz-piepen, die in einer 10er Staffel unterwegs waren und ebenfalls einen Wechsel beim Ruderclub realisierten, dann war die Wartezeit auch schon vorbei. Gerda tauchte mit Hugo am Wechselpunkt auf. Transponder übergeben, Beweisfoto knipsen und los ging es für mich.
Die letzten Monate waren bei mir ja nicht gerade von kontinuierlichem Training und beständigen Leistungszuwachs geprägt. Eigentlich habe ich erst seit 2 Wochen wieder richtig Bock auf Sport. Optimale Voraussetzung für einen schnellen 37k Lauf. Also lief ich mal zügig in einer 5:05 – 5:10 min/km an. Nach dem ersten VP senkte ich mein Tempo auf 5:20min/km. An den Verpflegungspunkten hielt ich jeweils kurz an um etwas zu essen und zu trinken. Bis zum Verpflegungspunkt-Highlight VP11 „Pagel and Friends“ kam ich auch ganz gut durch. Jetzt waren es nur noch 6,8km bis nach Sacrow. Als ich VP11 verließ, ahnte ich jedoch, was gleich kommen würde, denn trotz 3:30 Pause hatte sich mein Puls nicht wirklich abwärts bewegt und lag immer noch im oberen GA1 Bereich, wohlgemerkt, beim Loslaufen. Ca. 3,5km später gab es nochmal einen kleinen Anstieg und zack, aus war der Ofen. Körperlich war ich völlig leer. Meine Oberschenkel waren mittlerweile steinhart und meine Waden krampften. Ich hatte mich verzockt. Jetzt hieß es 3km Zähne zusammenbeißen, aber nix ging mehr. Ich musste bis Sacrow noch zwei weitere Gehpausen einlegen um mich mental und körperlich wieder zu sammeln.
Endlich sah ich den Eingang in den Schlosspark und da standen auch schon Heiko und Gerda. Transponderübergabe, Beweisfoto mit Heiko und mein Arbeitstag war vorerst zu Ende. Nach kurzem Schwatz mit Maty und Ulf machte ich mich mit Gerda auf den Weg unsere vierte Läuferin Hannah abzuholen.
Für meinen aktuellen Trainingszustand war es ein toller Lauf, auch wenn ich am Anfang etwas zu viel Risiko eingegangen und zu schnell gestartet bin. Ein Grund mehr, auch nächstes Jahr wieder an der Startlinie zu stehen.
WP2: Schloss Sacrow
[Der folgende Teil wurde von Staffelläufer Heiko geschrieben]
Als Carsten den Staffelstab bzw. Transponder an mich übergab, hatte ich richtig Lust auf Laufen! Der Regen hatte sich verzogen, es waren ideale Bedingungen. Also lief ich einfach los, ich fühlte mich gut und war überrascht, wie schnell ich laufen konnte – mein letzter ähnlich schneller Lauf war genau ein Jahr her. Als ich dann auf einen Läufer einer 10er-Staffel auflief und mich ein paar Kilometer mit ihm unterhielt, liefen wir gemeinsam noch schneller. Na schön, dachte ich mir, dann schauen wir doch mal, wie lange ich das durchhalten kann, und gab weiter Gas … Etwa zur Hälfte merkte ich, dass ich es nicht würde durchhalten können – zumal ich mir auch Blasen lief, wahrscheinlich weil meine Füße vom Dauerregen am Vormittag noch durchweicht waren. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, das Tempo trotzdem so lange wie möglich hoch zu halten. Dummerweise verlief ich mich dann kurz vor dem Wechselpunkt … Diese zwei Extrakilometer waren mein mentales K. O.: Ich drehte um und trabte mit krampfenden Muskeln zum Wechselpunkt, um viel später als zwischenzeitlich gehofft und niedergeschlagen an Hannah zu übergeben.
WP3: Sportplatz Teltow
[Ab hier schreibt wieder Hannah]
Das lange Warten hatte ein Ende. Während mein Team bereits früh in diesen Wettbewerb gestartet war, musste ich mich gedulden, bis auch ich mich auf die historische Reise entlang des Mauerwegs begeben durfte. Gemeinsam mit Ricarda, die mich über die ersten 16 Kilometer begleitete, machte ich mich auf den Weg. Auf den ersten Kilometern kamen uns einige Läufer*innen entgegen, denn der Wechsel- und Verpflegungspunkt wurde in die gleiche Richtung an- und weitergelaufen. Nach nur wenigen Metern sahen wir Thommy, der also bereits gut 100km in den Beinen hatte. Trotz der absolvierten Distanz sah Thommy immer noch blendend aus. Am Ende sollte er locker unter 24 Stunden (in 21:xx) finishen. Was für eine Leistung!
Für mich hieß es erstmal locker in meine bevorstehenden 59km starten. Nichts leichter als das, wenn man Seite an Seite mit einer Freundin fröhlich schnatternd durch die Gegend läuft :-) So vergingen die 16 Kilometer wie im Flug. Wir genossen die (zwar größtenteils asphaltierte) Waldlandschaft bei mittlerweile sonnigem Wetter. Nach 16 Kilometern übergab Ricarda sozusagen den Begleitungsstaffelstab an Kathi, die mich dann nochmal 12 Kilometer begleitete. Danke an die Beiden – es war toll, Euch an meiner Seite zu haben!
Mit dem Moment, wo ich alleine lief, ging es dann aber auch ganz schnell bergab. Bereits nach ungefähr 20 Kilometern hatte ich gespürt, dass meine Muskulatur begann sich zu beschweren. Ein Problem, das ich bereits in den letzten Wochen vor dem Mauerweglauf hatte. Vorab kann ich schon mal resümieren, dass wohl die Erholungszeit zwischen meinen Highlights im Frühjahr (3in3 und Rennsteiglauf) und dem Mauerweglauf nicht ausreichend für meinen Körper war. Der Juli war mein kilometerreichster Monat, alles lief gut im Training, aber Ende des Monats setzte eine enorme Müdigkeit, inklusive muskulärer Probleme ein. Beides bin ich leider trotz hochgradigem Tapering und Physiobesuchen bis zum Mauerweglauf nicht mehr losgeworden. Wir werden unsere Lehren daraus ziehen und in der Planung für die nächsten großen Wettkämpfe einiges anders und besser machen.
Jetzt aber zurück zum Mauerweglauf. Mein drastisches Tief mit Beinen, die einfach nicht mehr wollten und immer brutaler schmerzten ging einher mit der einbrechenden Dunkelheit. Dann setzte auch noch ein richtig ekeliger Regenschauer ein. Diese Mischung brachte mich zur Verzweiflung. Ich schaute auf die Uhr: Gerade einmal 35 Kilometer hatte ich absolviert und ich war körperlich und mental völlig am Ende. Wie sollte ich da noch 24 weitere Kilometer durchstehen? In meiner Verzweiflung rief ich Carsten an und ja – ich wimmerte: Ich kann nicht mehr. Ich muss gehen. Was mache ich jetzt bloß? Als Carsten dann sagte, dass er bereits mit dem Fahrrad unterwegs zu mir sei, war ich heilfroh. Der Ausblick ihn an meiner Seite zu haben brachte mich dann auch dazu wieder ins Traben zu wechseln. Kurze Zeit später kam Carsten. Von da an ging der große Kampf los. Gehen, Traben, Gehen, Traben. Wie gesagt, ich war körperlich und muskulär völlig am Ende. Es ging wirklich gar nichts mehr. Und ich bin mir sicher – wäre dies ein Einzelrennen gewesen, ich wäre ausgestiegen. Ich glaube ich hätte mir diese Schmerzen nicht angetan. Aber dies war ein Staffelrennen. Da war DNF keine Option. Gerda, Carsten und Heiko hatten selbst alle bereits auf der Strecke gekämpft, die durfte ich nicht enttäuschen. So kämpfte ich mich Kilometer für Kilometer in Richtung Ziel. Insbesondere das Teilstück von der Schlesischen Straße über die Oberbaumbrücke entlang der East Side Gallery fand ich dann nochmal herausfordernd. Es war bereits später Abend, entsprechend war das Partyvolk unterwegs, viele Leute in alkoholisiertem Zustand. Wieder war ich froh, dass Carsten bei mir war, denn tatsächlich musste ich mir den ein oder anderen Spruch anhören. Pascal, der mich eigentlich ab der Oberbaumbrücke ein Stück laufend begleiten wollte, hatte Carsten Bescheid gegeben, dass ich das mit Carsten alleine durchstehen musste. Es ging mir zu schlecht, auch mental, und an ordentliches Laufen war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken.
Was ich auf den letzten 20 Kilometern, die so schmerzhaft waren, erleben durfte, war trotz der Qual absolut großartig. Denn ich war nicht die einzige leidende Läuferin. Und ich durfte live miterleben, dass die Ultraläuferfamilie sich dadurch auszeichnet, dass man miteinander leidet und sich miteinander motiviert es zu schaffen, sich gegenseitig hilft. Das war sensationell. Es ist schwer in Worte zu fassen, was für eine Energie all die Läufer*innen, denen ich auf den letzten 20 Kilometern begegnet bin, an mich abgegeben haben. Auch wenn ich dabei teilweise ganz schön peinlich berührt war, denn die meisten dieser großartigen Menschen waren Einzelläufer*innen, die fast die dreifache Distanz von dem liefen, was ich da absolvierte. 160 Kilometer – für mich derzeit eine unvorstellbare Distanz. Aber was nicht ist, kann ja noch werden ;-)
Als ich dann gegen 1:15 Uhr endlich das Stadion erreichte, erwarteten mich Gerda und Heiko bereits am Stadioneingang, damit wir zu viert gemeinsam ins Ziel laufen konnten. Hand in Hand liefen Gerda, Heiko, Carsten und ich über die Ziellinie. Was für ein wunderbares Gefühl. In der Zeit, die wir dann noch am Stadion verbrachten, finishten noch einige Staffeln. Ich kann mich aber an kaum eine erinnern, ob 4er oder 2er Staffel (die 10er Staffeln nehme ich hier mal raus), die vollzählig gemeinsam die Ziellinie überquerte. Was soll ich sagen? Wir waren einfach ein verdammt geiles Team und darüber war ich unglaublich dankbar.
Selbstverständlich trafen wir uns dann nur einige Stunden später am Sonntagmittag zur Siegerehrung. Auch das macht diese Veranstaltung so besonders: Am Sonntag werden alle Läufer*innen, jede Staffel und jede*r Einzelläufer*in bei der offiziellen Siegerehrung geehrt. Zusammen mit der Pasta Party (mit großartigem Essen) am Freitag und dem offiziellen Briefing wird so ein Wochenende perfekt abgerundet.
Für uns ist der Mauerweglauf etwas ganz Besonderes. Ein wirklich außergewöhnliches Veranstaltungswochenende, ein herausfordernder Lauf entlang historischer Pfade, die Möglichkeit für großartigen Teamspirit und für Carsten und mich außerdem eine ganz persönliche Symbolik. Denn ohne den Fall der Mauer hätten wir uns niemals kennengelernt.
Wir danken allen Helfer(n)*innen, die dieses fantastische Veranstaltungswochenende erst möglich gemacht haben. Ohne Euch gäbe es den Mauerweglauf nicht!
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!