Elvira Ernst ist Läuferin. Marathonläuferin. Doch als solche wird sie von vielen nicht wahrgenommen. Im folgenden berichtet Elvira von ihren täglichen Hürden als Läuferin. Keine Hürden, wie sie die Durchschnittsläuferin kennt. Wir sind beide sehr ergriffen von Elviras Bericht. Bitte lest alle diesen Blogpost. Er wird Eure Sicht auf das Laufen nachhaltig beeinflussen.
Als Gastautorin auf diesem Blog möchte ich mich erst einmal kurz vorstellen: Ich heiße Elvira (alias @elligazelli), ich wiege zu viel und ich bin Läuferin. Ich laufe seit einigen Jahren, der größte Erfolg meiner läuferischen Karriere war bisher ein Marathon. Daneben wandere ich sehr gerne und mache Aquafitness.
Meine Laufkarriere begann auf einem Laufband; ich habe dort ein paar Wochen lang Intervalle, also abwechselnd gehen und laufen, trainiert und mich dann schließlich in den Park bei mir um die Ecke getraut. Ich bin dort extra mit dem Fahrrad hingefahren (nur 800m entfernt) und dann 15min in die eine Richtung und 15min in die andere Richtung gelaufen. Wie weit es war wusste ich nicht; mit Ausnahme der Laufschuhe hatte ich noch keine anderen Laufsachen oder Equipment. Mit den Laufsachen war das ohnehin so eine Sache: Mir passten selten Funktionsshirts und ich traute mich aufgrund meiner Figur nicht wirklich in Sportgeschäfte. Der Kauf meiner Laufschuhe in einem Fachgeschäft kostete mich sehr viel Mut und Überwindung. Meiner Ansicht nach waren Sportgeschäfte etwas für sportliche Menschen mit einer entsprechend schlanken Silhouette. Vor drei-vier Jahren gab es auch noch keine „Curvy Fit“-Lines, wie ich sie neulich einmal gesehen habe. Selbst beim Avon Frauenlauf in Berlin, bei dem auch „fülligere“ Walkerinnen teilnehmen, waren die Shirts eher knapp geschnitten. Laufen bzw. Sport allgemein war offenbar auch in den Augen der Sportbekleidungshersteller eher etwas für normalgewichtige Menschen. Also musste ich beim Laufen oder im Fitnessstudio meine Freizeitshirts aus Baumwolle tragen.
Normalgewichtige Sportler bzw. Läufer kennen solche Probleme vermutlich nicht. Aber in meinem Kopf suggerierte mir selbst die Sportartikelindustrie, dass ich dort nicht hingehöre.
Die fehlende Sportkleidung bzw. der Umstand, dass mir solche Sachen einfach nicht passten, führte dazu, dass bei meinem Training auch oft die Scham mitlief. Ich lief oft mit Sonnenaufgang los und hoffte, unterwegs nicht zu vielen Läufern zu begegnen. Zwar nahm ich durch das Laufen zu Beginn auch ab, aber – wie wahrscheinlich bei jedem – gab es Höhen und Tiefen. Unfall- und Krankheitsbedingte Laufpausen gehören seit meinen Anfängen dazu. Die Zwangspausen frustrierten mich und in diesen Zeiten nahm ich meist das Gewicht, das ich zuvor durch mein Training verloren hatte, wieder zu. Ein ständiges Auf und Ab.
Wer definiert eigentlich was eine gute Leistung ist?
Für mich persönlich noch schlimmer als das Kleiderproblem gestaltete sich der Aufenthalt in Startgebieten. Es gab Momente, in denen andere Läufer unschöne Dinge zu mir sagten oder ich einfach nur angestarrt und von oben bis unten gemustert wurde. Manchmal flüsterten sich andere Läufer etwas zu und plötzlich drehten sich ganze Laufgruppen nach mir um. Als schüchterner und introvertierter Mensch wäre ich in diesen Momenten am liebsten voller Selbstzweifel im Boden versunken.
Obwohl mich meine Medaillen zu Hause stolz machten und ich manche wochenlang in meiner Handtasche mit mir herumgetragen habe, fühlte ich mich der Laufgemeinschaft nicht wirklich zugehörig. Ich kam mir eher wie ein Sonderling vor, der geduldet wurde, aber eigentlich nicht wirklich dazu gehörte. Wie das hässliche Entlein unter den weißen Schwänen. Mit brillanten Zeiten konnte ich jedenfalls nicht trumpfen. Doch genau darum ging es vielen Läufern oftmals hauptsächlich.
In unserer leistungsorientierten Gesellschaft streben wir nach Erfolg, Glück und sozialer Anerkennung. Es geht häufig nur noch darum „schneller, höher und weiter“ voranzukommen. Durch Social Media können wir uns mit Millionen Menschen auf der ganzen Welt vergleichen und bekommen täglich vor Augen geführt, wie andere ein vermeintlich perfektes Leben führen. Was hinter der Fassade steckt, interessiert niemanden mehr. Nur keine Schwäche zeigen. Vor kurzem las ich den Post einer Läuferin, die sich vorsichtshalber schon einmal vorab für ihre „schlechte“ Pace rechtfertigte und sich in den folgenden Posts immer wieder für alle möglichen Dinge zu rechtfertigen versuchte, obwohl kein einziger Kommentar dort auftauchte. Als ob die Leser – neudeutsch: Follower – gewisse Erwartungen hätten, die erfüllt werden müssen. Menschen, die man oftmals in der realen Welt nicht einmal kennt.
Es geht auch anders! – Medal Monday beim New York Marathon
Eine ganz andere Erfahrung machte ich wiederum nach meinem ersten (und bisher einzigen) Marathon. Am „Medal Monday“ ging ich durch die Straßen von New York City und sah überall Läufer mit ihrer Medaille um den Hals. Für diesen Tag hatte ich eine Bustour gebucht und Lindsay, unser Tour-Guide, fragte zuerst wer am Vortag mitgelaufen sei. Zögerlich meldete ich mich und war die einzige im Bus. Ich dachte, dass meine Leistung, weil ich ziemlich weit abgeschlagen ins Ziel gekommen war, sogar nach Sonnenuntergang, nicht wirklich erwähnenswert sei. Lindsay jedoch stimmte einen Applaus für mich an. Sie fragte weder nach meiner Zeit noch sonst etwas, sie gratulierte mir einfach und strahlte mich an. So wie später an diesem Tag noch viele weitere Leute, denen ich über den Weg lief. Das war für mich ein vollkommen neues und anderes Gefühl.
Mittlerweile vollzieht sich meinem Empfinden nach ein schleichender gesellschaftlicher Wandel. Alleine in Punkto Sportbekleidung begreifen die Hersteller allmählich, dass Sport nicht mehr länger nur für schlanke Menschen ist. Auch die jubelnden Empfänge der letzten Hobbyathleten im Ziel von Sportveranstaltungen zeigen, dass der olympische Gedanke mehr und mehr in unsere Köpfe einzieht: Dabei sein ist alles! Ebenso sehe ich in Social Media Kanälen immer häufiger Bilder von Sportlern, die vermeintliche körperliche Ideale nicht erfüllen. Beispielsweise die britische Journalistin Bryony Gordon, die gemeinsam mit Plus-Size Model Jada Sezer den London Marathon 2018 in Unterwäsche lief, um vor allem kurvige Frauen zu ermutigen Sport zu treiben und um zu beweisen, dass Sport keine Kleidergröße kennt.
Mein nächstes großes Laufziel – Der Chicago Marathon!
Diese vermeintlichen Kleinigkeiten sind wichtige Signale an alle, denen vielleicht der Mut für den ersten Schritt fehlt, die voller Selbstzweifel sind und mit sich selbst hadern. Zu sich selbst zu stehen erfordert oftmals viel mehr Anstrengung als einen Marathon zu laufen. Wer sich in Startgebieten einmal umsieht, sieht Läufer in allen Größen und Formen. Und ja, sie alle sind Läufer, auch wenn sie zwischendurch walken und auch wenn sie Marathons nicht unter 4h finishen. Um es mit den Worten einer wahren Lauflegende zu sagen: I often hear someone say, „I’m not a real runner.“ We are all runners. Some just run faster than others. I never met a fake runner. (Bart Yasso)
Mit der Zeit ist mein Selbstbewusstsein gewachsen. Doch selbst heute erlebe ich diese Momente, in denen ich vor lauter Unsicherheit am liebsten umdrehen und mich zu Hause verkriechen würde. Mein wöchentlicher Lauftreff trifft sich beispielsweise in einem Laufladen. Obwohl ich eigentlich darüber hinweg sein müsste, ist das in meinem Kopf immer noch ein Ort für sportlich aussehende und schlanke Menschen. So wie Startgebiete immer noch Orte sind, an denen ich mich oft wie eine Fremde fühle. Diese Gefühle und Gedanken kommen und ich versuche sie anzunehmen, mich aber nicht zu sehr davon beeinflussen zu lassen.
Eine innere Schranke zu überwinden kostet manchmal sehr viel Mut, aber oftmals lohnt es sich, dafür über sich selbst hinaus zu wachsen. Mit jedem Schritt und jedem Lauf wird es leichter. Trotz meiner inneren Hürden werde ich mein großes Ziel in diesem Jahr weiter verfolgen: Der Chicago Marathon. In Momenten des Zweifelns versuche ich mir vorzustellen, wie ich am 13.10.2019 das Ziel erreiche und die Medaille bekomme. Eine schöne Vorstellung, die für einen Moment alle negativen Gedanken vergessen lässt und mich motiviert.